Artikel und Texte: Das Jahr des Fuchses
Das Jahr des Fuchses
Dag Frommhold, 2002.
Veröffentlicht in "Freiheit für Tiere" (2002) sowie dem "Wolf Magazin" (2003)

Als der junge Fuchs Rif im Mai zum ersten Mal die Augen öffnet, ist er knapp zwei Wochen alt. Seit seiner Geburt sind er und seine beiden Geschwister fürsorglich von ihrer Mutter gepflegt worden; in den wärmenden Pelz der Füchsin gekuschelt, hat die schützende Enge des Fuchsbaus die anfangs noch blinden und tauben Fellknäuel von allen Unbilden der Außenwelt abgeschirmt. Ihr graubrauner Pelz macht es zu diesem Zeitpunkt schwer, die nur wenig mehr als maulwurfgroßen jungen Füchse von Hundewelpen zu unterscheiden. Noch lassen die tapsigen Bewegungen der Kleinen kaum darauf schließen, daß Rif und seine Geschwister eines Tages zu geschickten und intelligenten Mitgliedern der erfolgreichsten Beutegreiferart unseres Planeten heranwachsen werden.
Nach gut zwei weiteren Wochen inspiziert Rif unter den wachsamen Augen seiner Mutter zum ersten Mal den Ausgang des Fuchsbaus. Nervös schnuppernd und staunend in eine für ihn vollkommen neue und gänzlich unbekannte Welt blickend, wagt er sich als erstes nach draußen, gefolgt von seinen zwar ebenso neugierigen, aber weniger mutigen Geschwistern. Tollpatschig erkunden die Jungfüchse ihre Umgebung mit Augen, Nase, Pfoten und natürlich den bereits beachtlich scharfen Milchzähnen und beginnen schon bald, sich gegenseitig zu jagen und miteinander zu balgen. Auch ihre Eltern, allem voran deren buschige Schwänze, müssen nicht selten als Spielzeug herhalten. So lange die Situation es erlaubt, verlassen die erwachsenen Füchse ihren Wachtposten am Bau für einige Zeit und gehen auf die Spielaufforderungen von Rif und seinen Geschwistern ein, doch sobald auch nur ein Hauch von Gefahr auszumachen ist, signalisieren sie ihren Jungen durch einen lauten Warnruf, sofort im sicheren Bau zu verschwinden. Bleibt die Gefahr bestehen, oder empfinden die Füchse den Bau nicht mehr als sicher – beispielsweise, weil daran menschliche Gerüche wahrzunehmen sind -, zieht die gesamte Fuchsfamilie kurzerhand in ein Ausweichquartier um.
Im Spiel der Fuchswelpen bildet sich schon früh eine Hierarchie heraus. Rif, als der stärkste und mutigste der Kleinen, kann seinen Platz dabei ohne Schwierigkeiten behaupten und erwirbt so das Vorrecht, bei der Verteilung der elterlichen Jagdbeute der erste zu sein. Fuchskinder werden bis zu einem Alter von acht bis zwölf Wochen von ihrer Mutter gesäugt, bekommen jedoch gegen Ende dieser Zeit bereits feste Nahrung, die von Fuchs und Füchsin erbeutet und zum Bau gebracht wird. Rifs Vater beteiligt sich aufopferungsvoll an der Aufzucht der Jungfüchse, versorgt sie und ihre Mutter mit Eßbarem und spielt mit dem Nachwuchs. Gerade das Spielen ist für junge Füchse enorm wichtig: Im Spiel trainieren die Welpen bedeutende Fähigkeiten, die sie für ihr späteres Leben brauchen, können Verhaltensweisen ausprobieren, ohne die oftmals fatalen Konsequenzen des wirklichen Lebens fürchten zu müssen, und haben allem Anschein nach auch noch eine Menge Spaß dabei.
Im Juli beginnen Rif und seine Geschwister schließlich, den für Füchse so wichtigen Beutesprung zunächst an Insekten, später dann an lebenden Beutetieren, die ihre Eltern ihnen von der Nahrungssuche mitbringen, zu üben. Ziel ist es dabei, sich mit seinen kräftigen Hinterläufen in die Luft zu katapultieren, die Beute – in aller Regel Mäuse – mit den Vorderpfoten zu Boden zu drücken und schließlich mit den Zähnen zu töten. Dem Ideal eines eleganten, millimetergenau gezielten „Mäusesprungs“ kommen Rifs erste Versuche jedoch nicht einmal nahe – bis die Technik perfektioniert ist, erfordert es schon einige Monate intensiven Übens.
Immerhin hat Rifs Fellfarbe sich mittlerweile von dem Graubraun seiner frühen Kindheit zu der schönen Zeichnung entwickelt, die für Füchse so typisch ist: Das Fell ist dicht und leuchtend rot, der hellgraue bis weiße Pelz an Brust, Bauch und Beininnenseiten steht in prächtigem Kontrast zu dem Schwarz von Pfoten und Ohren, und der buschigen Schwanz, Zierde eines jeden Fuchses, endet in einer leuchtend weißen Spitze.
Nach all der Familienidylle der vergangenen Monate wird das Leben in dem Revier, das Rif sich mit seinen Eltern und Geschwistern teilt, im September langsam unruhiger. Die Füchse verbringen nur noch wenig Zeit im Bau, und anstatt mit seinen Geschwistern zu spielen, verspürt Rif das zunehmende Bedürfnis, allein zu sein und seine Ruhe zu haben. Am liebsten liegt der junge Fuchs ausgestreckt auf einem großen Findling und läßt sich die Sonne auf den Pelz scheinen; auch wenn er bei der Jagd noch lange nicht so geschickt ist wie seine weitaus erfahreneren Eltern, sucht er sich seine Nahrung mittlerweile größtenteils selbst. Den Hauptanteil seiner Beute machen Mäuse und Kaninchen aus, doch auch Fallobst und Beeren schmecken Rif vorzüglich. Sowohl bei der Jagd als auch bei der Suche nach Früchten kommen dem jungen Fuchs seine überlegenen Sinnesorgane zugute – Füchse riechen 400mal besser als der Mensch, ihr Hörbereich reicht bis 65kHz, während Menschen lediglich Töne bis 16kHz wahrnehmen können, und ihre Nachtsicht ist ähnlich gut wie jene von Katzen.
In den folgenden Wochen werden die Auseinandersetzungen Rifs mit seinen Geschwistern immer ruppiger. Auch wenn die jungen Füchse einander nicht ernsthaft verletzen und ihre gefährlichsten Waffen – die spitzen Fangzähne – konsequent aus dem Spiel lassen, fehlt diesen Kämpfen doch die spielerische Unbedarftheit aus früheren Tagen. Während die Atmosphäre im Fuchsrevier immer angespannter wird, verspürt Rif in zunehmendem Maße das Bedürfnis, sich ein eigenes Revier zu suchen.
Nach Wanderungen über Dutzende von Kilometern und vielen Auseinandersetzungen mit ortsansässigen Füchsen, die Rif als Eindringling in ihrem Revier betrachteten und ihn dementsprechend mit Warnrufen, Drohgebärden und reichlich ungestümen Angriffen vertreiben wollten, gelingt es dem jungen Fuchs schließlich im späten Herbst, ein frei gewordenes Territorium in Beschlag zu nehmen. In den letzten Wochen hat Rif nicht nur sein dichtes, leuchtend rotes Winterfell bekommen, sondern auch an Stärke und Gewicht deutlich zugelegt. Dadurch, daß um ein Revier kämpfende Füchse sich gegenseitig in aller Regel nicht verletzen, ist es Rif erspart geblieben, durch eine Wunde allzu sehr in seinem Daseinskampf und bei der Verteidigung seines neu gewonnenen Besitzes beeinträchtigt zu werden.
Mit dem ersten Schneefall im Dezember beginnt für Rif eine Zeit der Entbehrungen. Es wird immer schwerer, Beute zu finden, und immer häufiger bleibt seine Nahrungssuche erfolglos. Der Hunger hat schon viele Füchse vor ihm in die Nähe menschlicher Behausungen und ihrer Mülltonnen und Hühnerställe getrieben und dort in große Gefahr gebracht. Doch nicht die Leere im Magen ist jetzt die größte Gefahr für den jungen Fuchs: Sein prächtiger Winterpelz in der schneebedeckten Landschaft ist nicht nur ein unglaublich schöner, sondern auch ein sehr auffälliger Anblick, und so mancher Jäger wünscht sich nichts sehnlicher, als Rif dieses Fell über die Ohren zu ziehen.
Um überleben zu können, ist der junge Fuchs jetzt vollständig auf seine scharfen Sinne und die sprichtwörtliche Schläue seiner Art angewiesen. Kaum ein Tier kann sich mit dem Fuchs messen, wenn es darum geht, einerseits mit Tricks und Täuschung potentielle Beute zu überlisten, andererseits aber den Nachstellungen von Flinten- und Fallenjägern durch Vorsicht, Einsicht und blitzschnelles Reagieren zu entkommen.
Im Januar hört Rif einen Laut, einen Lockruf, der ihn wie kein anderer zuvor elektrisiert. Eine Füchsin, nicht allzu weit entfernt, scheint sich nach ein wenig Gesellschaft zu sehnen. Der junge Fuchs folgt dem Locken des Weibchens, schnuppert aufgeregt, bleibt immer wieder stehen, um zu lauschen, zu wittern und die eine oder andere Antwort in den kalten Wind zu bellen, und entdeckt sie schließlich: Ein wunderschönes Geschöpf mit tiefrotem Fell, das mit geschmeidigen Bewegungen einen schneebedeckten Hang hinaufschnürt und auffordernd zu Rif hinabblickt. Für den jungen Fuchs ist es Liebe auf den ersten Blick.
In den folgenden Wochen hat er nur noch Ohren und Augen für seine neu gewonnene Freundin. Er folgt ihr, umwirbt sie und beschnuppert unaufhörlich ihre Duftmarken, um den richtigen Moment nicht zu verpassen, denn Füchsinnen sind nur während weniger Tage empfängnisbereit. Die Distanz zwischen den beiden Füchsen schrumpft im selben Maße, wie ihre gegenseitige Zuneigung wächst, und das gegenseitige Beknabbern und Belecken wird immer intensiver, bis die Füchsin Rif schließlich gewähren läßt.
Mit ein wenig Glück werden die Kinder der beiden Füchse im folgenden April geboren werden. Außerdem ist es gut möglich, daß Rif und seine Freundin auch in den folgenden Jahren gemeinsam Junge großziehen werden – in jagdfreien Gebieten, wo die sozialen Strukturen der Fuchsgemeinschaft stabil und streßarm sind, gehen Füchse oft lebenslange Einehen ein.